Der magnetische Kompass diente seit der griechischen Antike bis vor 120 Jahren allen Seefahrern und Entdeckern zur Navigation. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Zeit jedoch reif für etwas ganz Neues. Zwei geniale Persönlichkeiten betraten die Bühne in Kiel und schrieben mit dem Kieler Kreiselkompass Weltgeschichte. Wie kam es dazu?
Die zentrale Figur war erstaunlicherweise ein Kunsthistoriker, der aus dem Saarland stammende Hermann Anschütz. Der zweite war einer der berühmtesten Physiker der Welt, Albert Einstein, der vor über 100 Jahren hier in Kiel eine Rede hielt, die für unsere Stadt ein markantes historisches Ereignis war.
Anschütz ließ sich im Jahre 1901 durch die Begegnung mit dem Wiener Polarforscher Julius von Payer für die damaligen hochaktuellen legendären Polarexpeditionen begeistern und hatte die Idee, den Nordpol mit einem Unterseeboot zu erreichen. Anschütz wusste jedoch, dass ein Magnetkompass in der Stahlröhre eines U-Bootes nicht funktionieren würde und dass die Anwendung der Kreiselgesetze das Problem lösen könnte.
Die ersten Erkenntnisse zu einem Gyroskop, übersetzt Kreiselinstrument, hatten der Tübinger Physiker von Bohnenberger im Jahr 1810 und der französischen Physiker Foucault 1851. Deren Grundlagen wiesen dem begabten technischen Erfinder Anschütz mit seiner konstruktiven Phantasie den Weg. Mit Enthusiasmus und großer Beharrlichkeit, auch mit Hilfe des von seinem Adoptivvater Kaempfe geerbten Vermögens, gelang Anschütz-Kaempfe, wie er sich nun nannte, nach 3-jähriger experimenteller Arbeit 1904 die Konstruktion des ersten funktionsfähigen Kreiselkompasses.
Einige Jahre später, das muss an dieser Stelle noch ergänzend erwähnt werden, erfand Anschütz ein weiteres bahnbrechendes Instrument, den für das Fliegen bei schlechter Sicht unentbehrlichen sog. „Künstlichen Horizont“. Man muss es als ein Wunder der Wissenschafts- und Technikgeschichte bezeichnen, dass es dem weder mathematisch noch physikalisch geschulten Kunsthistoriker Anschütz gelang, einen so komplexen, voll funktionsfähigen Kreiselkompass zu entwickeln.
Anschütz demonstrierte seinen 1905 patentierten Kreiselkompass der Kaiserlichen Marine in Kiel, denn für die Marine und auch für die Handelsschifffahrt war seine Erfindung von großer Bedeutung. Deshalb verlegte Anschütz seinen Wohnsitz von München in die Hafen- und Werftstadt Kiel in die Dammstrasse, dem heutigen Lorentzendamm. Dort erinnert eine eher unscheinbare und recht verwitterte Gedenktafel an Dr. Hermann Anschütz-Kaempfe.
Doch Anschütz musste seine patentierte Erfindung gegen einen Nachahmer, den Amerikaner Sperry, vor Gericht verteidigen. Er begegnete dabei 1915 erstmals Albert Einstein, dem vom Gericht bestellten unabhängigen Gutachter. Einsteins Expertise als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie in Berlin und Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften überzeugte das Gericht und Anschütz gewann den Prozess gegen Sperry. Aus dieser Bekanntschaft entwickelte sich mit der Zeit eine intensive Zusammenarbeit und Freundschaft.
Der von Anschütz nach Kiel eingeladene Einstein gab bei der Weiterentwicklung der Technik des Kreiselkompasses während seiner zahlreichen Besuche und auch in den dokumentierten Briefwechseln immer wieder zielführende Ratschläge, die es Anschütz ermöglichten, die noch bestehenden technischen Probleme des hochkomplexen Richtungshalters zu lösen.
Bei seinen Besuchen in Kiel von 1915 bis 1926 wohnte Einstein zunächst im Hause Anschütz in der Bismarckallee, später in einer Wohnung in der Neumühlener Kompassfabrik, die Einstein humorvoll seine „Diogenes-Tonne“ nannte, mit direktem Blick auf die Schwentine und auf den Anlegesteg, an dem der Jollenkreuzer von Anschütz lag. Gemeinsam mit Anschütz oder auch allein segelte Einstein gern auf der Kieler Förde.
Einstein schätzte das beschauliche Kiel. Hier hatte er kaum antisemitische Anfeindungen und Belästigungen zu befürchten, die er in Berlin häufiger erleben musste. Einstein eilte bereits seit 1905 der Ruf eines Ausnahmephysikers voraus, denn in diesem einen Jahr veränderte er mit seiner modernen Physik die Naturwissenschaften seiner Zeit. Als man die Bedeutungen seiner Entdeckungen erfasst hatte, wurde das Jahr 1905 auch später sein Wunderjahr, das „Annus Mirabilis“, genannt.
Er veröffentlichte in diesem Jahr gleich mehrere Entdeckungen. Darunter die „Elektrodynamik bewegter Körper“, die sogenannte spezielle Relativitätstheorie, an der auch seine hochbegabte in Physik und Mathematik ausgebildete 1. Ehefrau Mileva Maric beteiligt war. Außerdem die quantentheoretische Erklärung des Photoelektrischen Effekts, für den er 1921 den Nobelpreis für Physik erhielt. Heute ist dieser Effekt Grundlage für Lichtschranken und nicht zuletzt für den Laser mit seinen unendlich vielen medizinischen und technischen Anwendungen.
Nachdem Ende 1919 seine Allgemeine Relativitätstheorie, die Lichtablenkung durch Gravitationskräfte, durch britische Physiker bestätigt worden war, mussten die bis dahin gültige Theorien von Newton korrigiert werden und Einstein wurde über Nacht weltberühmt. Einladungen und Ehrungen aus aller Welt folgten, unter anderem wurde er als bislang einziger Wissenschaftler mit einer Konfetti-Parade auf dem New Yorker Broadway geehrt.
Umso unverständlicher erscheint aus heutiger Sicht die Weigerung der Kieler Universität, dem inzwischen so berühmten Einstein nur ein Jahr danach, am 15. September 1920, einen Hörsaal zur Verfügung zu stellen. Er musste ins Gewerkschaftshaus in der Legienstrasse ausweichen, wo eine kleine Gedenktafel an dieses historische Ereignis erinnert, jedoch nicht die schöpferische Zusammenarbeit mit Anschütz erwähnt wird.
Am 29. Juli 1929 erhielt Einstein zusammen mit seinem Förderer, dem in Kiel geborenen Nobelpreisträger Max Planck, seinem „Verehrten Meister“ wie Einstein ihn nannte, die höchste Auszeichnung der Dt. Physikalischen Gesellschaft: die Max-Planck-Medaille.
Es war der 10. Jahrestag der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages und Einstein musste auf dem Weg zu seinem Physikalischen Institut an grölenden nationalsozialistischen Studenten vorbeigehen. Einstein hat diesen Tag nie vergessen, denn ihm wurde klar, dass er Berlin verlassen und aus Deutschland emigrieren musste. Nach Vorträgen in den USA im Dezember 1932 blieb Einstein mit seiner Familie dort, um nicht wieder zurückzukehren. Bis zu seinem Lebensende 1955 lebte er in Princeton und wirkte am dortigen „Institute for Advanced Studies“.
Hermann Anschütz-Kaempfe hatte sich schon Mitte der 20er Jahre aus dem Unternehmen in Kiel nach München zurückgezogen. Er war nur noch Berater der Firma Anschütz und widmete sich mit seinem Vermögen im Rahmen einer Stiftung ganz der Förderung des naturwissenschaftlichen Nachwuchses der Münchner Universität. Er erlebte die Emigration seines Freundes Einstein nicht mehr, denn er verstarb bereits 1931 mit 59 Jahren.
Der Kieler Kreiselkompass und auch der Künstliche Horizont sind bis heute von unverändert eminenter, weltweiter Bedeutung und unersetzlich für die See- und Luftfahrt. Jedes Schiff hat diesen Kompass an Bord und kein Flugzeug kann ohne die beiden in Kiel entwickelten Anschütz-Instrumente fliegen.
Der Philanthrop und geniale Erfinder Hermann Anschütz-Kaempfe und der brillante und philosophisch begabte Physiker Albert Einstein sind weltberühmte Persönlichkeiten. Sie schrieben ein herausragendes technisches, aber auch politisches Kapitel der Kieler Stadtgeschichte. Es wurde begleitet von Antisemitismus und Rassismus jener Zeit, die auch heute in bedrückender Weise wieder zu beobachten sind.
Wegen ihrer in vielerlei Hinsicht überragenden Leistungen und ihrer freundschaftlichen Zusammenarbeit werden Beide seit 2021 mit einem Denkmal an der Kiellinie und auch auf dem Ostufer am Standort der früheren Anschütz-Werke gewürdigt.
Quelle: Dr. R. Habben, Überarbeitung G. Immens